Erinnert ihr euch noch an das gleichnamige Gedicht von Günter Grass, das 2012 in der Süddeutschen Zeitung erschien und viel Unmut erzeugte? Zusammenfassend warf Grass Israel in tradtioneller Manier die Gefährdung des Weltfriedens vor, was auch sonst.
Andreas Heidtmann, Gründer des Webportals poetenladen hat auch gesagt bzw. geschrieben, was gesagt werden muss. Nämlich dass das obige Gedicht aus literarischer Sicht grottenschlecht ist. Heidtmann stellt sich sogar die Frage, ob das Grasssche Werk überhaupt ein Gedicht ist, da „dem Text signifikante kompositorische Verfahrensweisen auf dem Stand heutiger Dichtung fehlen“. Er nimmt diplomatisch an , dass ein Gedicht ein Gedicht ist, wenn der Autor sagt, es sei ein Gedicht. Das mag so sein.
Was wird nun am Gedicht von Grass bemängelt?
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Der Duktus des Gedichts – oder des Prosagedichts, wie manche Zeitungen es nennen –, ist tatsächlich prosaisch bis hölzern, so dass es stellenweise wie Verlautbarung und Manifest klingt. Dieser Manifestton wird kaum je durch lyrische Spracharbeit in poetischen Klang und dichterisches Changieren überführt. Vieles klingt nach schlechtem Journalismus und nicht nach lyrischem Sprechen. Kein Bild, keine atemberaubende Metapher, kein Sprachwitz, keine erkennbare Formung, kein Groove, weder Berührung mit der Avantgarde noch ein dünnes Fädchen Tradition. Und selbst wenn der nackte Verlautbarungston dichterisch intendiert wäre, bliebe er doch ermüdend.
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Neben vielen Dürftigkeiten bietet Grass auch Kitsch: „Warum sage ich jetzt erst, / gealtert und mit letzter Tinte: …“ Beschworen wird das Bild eines Gealterten, eines Weisen, der mit letzter Tinte spricht, ein Bild, dem im Übrigen die Verführung des Metaphorischen abgeht, so dass die stilblütenhafte Aussage bleibt, dass jemand etwas mit Tinte „sagt“. Mag sein, dass Günter Grass seine Texte mit Tinte schreibt (oder sagt?) und mit dem Federkiel vorm Tintenfässchen hockt. Fragt sich, wie viel Zeit seine Tinte benötigt, um digitalisiert zu werden, per Mail an die New York Times zu gehen und weltweit abrufbar ins Netz zu gelangen? Was sagt die Tinte von Günter Grass auf unseren Bildschirmen?
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Das Desaster dieses Gedichts ist in Wahrheit ein poetisches und in dessen Folge erst ein politisches. Denn wäre das Gedicht ein Gedicht, könnte es nicht auf bloße Aussagen hin abgeklopft werden, nicht als Addition richtiger oder falscher Behauptungen gelesen werden. Dichtung löst in ihren gelungenen Momenten aus Denkmustern und eingeschliffener Logik und öffnet eine Dimension poetischer Einsicht…
Abschließend tritt Heidtmann Marcel Reich-Ranickis These von der Doppelbegabung entgegen. Dieser These zufolge gäbe es so gut wie keinen Autor, der gleichermaßen Gedichte wie Romane schreiben könne, außer Günter Grass.
Ein Irrtum, wie Heidtmann zumindest für diesen Fall annimmt.
Nachtrag:
Ich habe diesen Artikel trotz der zweifelhaften Qualifikation des Grassschen Werks als Gedicht dennoch unter „Dichter und Denker“ eingeordnet. Dass Grass zumindest ein Denker ist, müsste doch außer Zweifel stehen, oder nicht?