Die Mädchen von Zimmer 28: Judith Rosenzweig

„Gott sei Dank!“ 1200 Besucher beim ICEJ-Tag in Stuttgart

Da steht sie, die wackere alte Dame.

Sie stützt sich auf ihre Krücke, weigert sich dennoch standhaft, sich auf einen Stuhl zu setzen, den ein Mitarbeiter der Veranstaltung ihr gut gemeint auf die Bühne hingestellt hat. Sie wird während der ganzen Veranstaltung stehen bleiben.

Ich habe mich auf die Begegnung mit dieser Überlebenden des Holocaust besonders „gefreut“. Wann wird wieder die nächste Gelegenheit kommen? Die Überlebenden, die Zeitzeugen des Holocaust sterben still und leise davon. Was habe ich erwartet? Eine bittere Frau, eine vorwurfsvolle Frau? Nicht unbedingt. Aber auf Judith Rosenzweig bin ich nicht vorbereitet. Eine 85-jährige Frau, die seit drei Monaten in einem Altersheim in Haifa lebt, einem Heim speziell für Holocaustüberlebende. Dieses Heim wird von der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem finanziert. Es ermöglicht den Opfern des Holocausts ein würdevolles Leben im Alter. Denn es traurige Tatsache, dass gerade die Menschen, die dem Horror des Holocausts entfliehen konnten, auch noch im Alter oft leiden müssen, insbesondere an Armut.

 

Judith Rosenzweig ist eine adrette kleine Dame mit einem wachen Verstand. Sie begrüßt uns mit einer charmanten Kusshand. Man sieht ihr das hohe Alter nicht an. Sie spricht deutlich und klar. Sie ist technisch versiert. Cool geht sie ans Handy, als es plötzlich auf der Bühne klingelt.

Aber es gibt noch eine andere Judith Rosenzweig. Das Mädchen, das 1941 mit elf Jahren nach Theresienstadt kam.

Frau Rosenzweig erzählt, wie alles begann. Ihre Familie war die einzig jüdische in ihrer Stadt irgendwo in der ehemaligen Tschechoslowakei. Plötzlich durfte sie nicht mehr in die Schule gehen. Warum durfte sie nicht mehr zur Schule gehen? Diese Frage stellt sie dem Publikum, stellt sie sich selbst. Sie berichtet von den Schildern vor den Geschäften, auf denen Hunden und Juden der Eintritt verwehrt  wurde. Geschichte wiederholt sich.

1941 kam sie nach Theresienstadt. Sie erzählt, dass das Leben dort für Kinder und Jugendliche ertragbar war, da die jüdische Lagerverwaltung sich darum bemühte, das Leben für diese Gruppe möglichst angenehm zu gestalten. 1942 wurde sie eines der Mädchen von Zimmer 28, deren Schicksal in einem Buch von der Autorin Hannelore Brenner-Wonschick dokumentiert wurde.

Zwölf bis vierzehn Jahre alt waren die Mädchen, die von 1942 bis 1944 im „Mädchenheim L 410, Theresienstadt“ zusammen lebten; 30 Quadratmeter für 30 Mädchen, das war das „Zimmer 28“.

Nur 15 von den insgesamt 60 Mädchen aus dem Zimmer 28 überlebten das Kriegsende. Von den 15.000 Kindern, die in Theresienstadt waren, nur 1.000.

Frau Rosenzweig erzählt, dass sie während des Aufenthalts in diesem Zimmer Theater spielte, Zeichenunterricht bekam. Vermutlich sprach sie damit die Kinderoper Brundibár an, die in Theresienstadt 55 Mal von den Kindern aufgeführt wurde.

Nazi-Propagandafilm mit dem zynischen Titel
„Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“:

Brundibár ist ein böser Leierkastenmann, der symbolisch für Hitler steht
(der Junge mit dem Schnauzbart).

Hans Krása: Die Kinderoper Brundibár

 

1944 wurde die Familie von Frau Rosenzweig nach Auschwitz deportiert, ihre Eltern, die Schwester und sie. Sie weiß nicht mehr, wie lange sie unterwegs waren, in einem Viehwaggon mit nur einem kleinen Fenster oben an der Decke. Es gab nichts zu trinken, nichts zu essen. Für die Notdurft wurde ein Kübel hingestellt.

Als sie in Auschwitz ankamen, wurde den Häftlingen gesagt, dass sie ihre Habseligkeiten im Waagon lassen mussten. Es gab keine Leiter, um aus dem Waagon zu klettern. Die Jungen sprangen heraus, die Alten wurden heruntergestoßen. An der Rampe wurde ihre Familie aufgeteilt, der Vater kam in die Männerreihe. Das war das letzte Mal, dass Frau Rosenzweig ihren Vater sah.

Hier in Auschwitz machte sie die Bekanntschaft mit Josef Mengele, der Arzt, der über Leben und Tod entschied.

Im Übrigen soll der Burda-Verlag eine Million DM an den Sohn von Josef Mengele, Rolf Mengele, gezahlt haben, für den handschriftlichen Nachlass von Josef Mengele.
 

Die Mutter und die Geschwister Rosenzweig wurden am nächsten Tag von Mengele untersucht. Die Mutter wurde für „untauglich“ befunden. Wie durch ein Wunder entging sie den Gaskammern. Da sie nichts mehr zu verlieren hatte, hätte sie jedem Wachmann, der ihr begegnete, mit folgenden Worten von ihrer „Arbeitstauglichkeit“ zu überzeugen versucht: „Sie irren sich, ich kann arbeiten“. Die Mutter starb eine Woche nach Kriegsende.

In Auschwitz musste Frau Rosenzweig anfangs Gruben ausheben. Sie hörte während dieser Zeit Detonationen und hoffte darauf, dass der Krieg bald zu Ende gehen würde.

Doch dem war nicht so. Im Januar 1945 begab sie sich, zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter, auf einen Todesmarsch Richtung Westen. Ohne Essen, nur mit dem Fetzen Stoff verhüllt, den sie in Auschwitz bekam. Die Häftlinge schliefen in Ställen, aßen Viehfutter, das die Bauer für ihre Tiere auf den Feldern ließen. Frau Rosenzweig war froh, wenn sie eine Rübe fand.

Die Entmenschlichung der Juden durch die Nazis war Realität geworden.

Frauen, die auf diesem Todesmarsch keine Kraft mehr hatten und einfach sitzenblieben, wurden erschossen. Warum? Diese Frage wirft Frau Rosenzweig in den Raum. Warum Menschen erschießen, die schon am Boden liegen?

Die Familie kam nach Bergen-Belsen. Hier gab es keine Gaskammer, hier starben die Menschen an Hunger. Frau Rosenzweig erzählt, dass sie morgens eine Scheibe Brot und etwas braunes Wasser (Kaffee à la KZ) bekam, am Mittag eine wässrige Brühe mit Rübenstücken  und abends wieder ein Stück Brot mit Wasser.

Sie hätte die Zeit in Bergen-Belsen nur dank ihrer Mutter und Schwester überlebt, die sie von hinten stützten, wenn sie nicht mehr stehen konnte. Als die Briten das KZ Ende April 1945 befreiten, hatten die Häftlinge tagelang nichts gegessen. Das Brot, das die Wächter den Häftlingen zurückgelassen hatten, sei vergiftet gewesen. Man durfte dieses Brot nicht verteilen. Viele Häftlinge aßen dennoch davon, starben daran.

Die Sache mit dem vergifteten Brot war mir bis jetzt nicht bekannt. Im Internet habe ich dazu leider nichts gefunden.

Als die Mutter erkrankte, begab sich Frau Rosenzweig in ein Dorf, um Grieß für die Mutter zu suchen. Sie fand jemand, der ihr Grieß gab. Doch die Mutter konnte davon nichts mehr essen. Sie verstarb zuvor. Frau Rosenzweig brachte es nicht über sich, diesen Grieß selbst zu essen. Die Schwester erzählte ihr, dass die Mutter sagte: „Ich bin mir sicher, dass sie [erg. Judith Rosenzweig] Grieß finden wird. Ich werde alles alleine essen und nichts davon übrig lassen“.

Frau Rosenzweig blieb noch eine Weile in Celle, da ihre Schwester nachfolgend ebenfalls erkrankte. Sie wurde anfangs in einem Stall untergebracht. Im September 1945 verließ sie Deutschland Richtung Israel.

Rosenzweig

Ihre Botschaft an uns:

Wir sollen das, was ihr und den anderen Opfern passiert ist, nicht vergessen. Es ist heutzutage fast unmöglich, aber sie wünscht sich Frieden unter den Menschen, keinen Krieg. Es ist unglaublich, was Hass ausrichten kann. Es ist unglaublich, welche Erfindungen Hass hervorbringen kann. Die Menschheit soll miteinander sprechen, sich nicht totschlagen. Das möchte sie gerne erleben.

Ich hoffe, dass ich das Wichtigste des Vortrages vollständig wiedergegeben habe. Die Jugend braucht solche Vorträge, die ihnen das perverse System des Holocausts deutlich machen.

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