Ein ungelesener Bestseller?

Beharrlich hält sich der Glaube, die Deutschen hätten „Mein Kampf“ nur gezwungenermaßen besessen und oft erst gar nicht aufgeschlagen. Vieles spricht dagegen.

Ein Gastbeitrag von

http://www.zeit.de/2015/49/mein-kampf-adolf-hitler-nationalsozialismus-leser

Laut Plöckinger soll die Bibel des braunen Volkes, „Mein Kampf“, bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ein enormer verlegerischer Erfolg gewesen sein. Die sog. „Volksausgabe“, die die zwei Bände von „Mein Kampf“ zusammenfasste, wäre so begehrt gewesen, dass der braune Eher-Verlag, der die Hitlerschen Kämpfe und Krämpfe herausgab, sich schon wenige Wochen nach Erscheinen der billigeren „Volksausgabe“ im Mai 1930 für Lieferschwierigkeiten entschuldigen müsste.

Auch 1932/33 hätte ein großes öffentliches Interesse an „Mein Kampf“ bestanden. So soll etwa eine Million Exemplare ohne Zwang und staatliche Geschenkaktionen vom „Volk“ erworben worden sein. Darüber hinaus würden die hohen Ausleihzahlen öffentlicher Bibliotheken in dieser Zeit für ein großes Interesse an diesem Buch sprechen. Ab 1938/39 hätte dann der freie Verkauf von „Mein Kampf“ und die diesbezüglichen Ausleihzahlen in den Bibliotheken wieder deutlich zugenommen.

Wie viel der Normalbürger von den Verbrechen der Nazis und dem braunen Wahnsinn hätte wissen können, zeigt sehr anschaulich das Tagebuch, das Friedrich Kellner von 1939 bis 1945 führte.

Das fast 900 Seiten starke Werk skizzierte das (politische) Leben des Justizinspektors Kellner und seiner Frau während der Herrschaft des NS-Regimes in Laubach, einer Kleinstadt in Hessen. Friedrich Kellner zufolge liegt der Sinn seiner Niederschrift darin, „augenblickliche Stimmungsbilder aus seiner Umgebung festzuhalten, damit eine spätere Zeit nicht in die Versuchung kommt, ein ›großes Geschehen‹ heraus zu konstruieren (eine ›heroische Zeit‹ od. dergl.)“. Ohne über Einblicke in Geheimdokumente zu verfügen oder wie die Exil-SPD für seine Berichte auf ein Netz von Zuträgern zurückgreifen zu können, durchschaute er aufgrund seiner aufmerksamen Beobachtungen bald das Nazi-Regime, dessen verlogene Propaganda und Verbrechen.

Dem Tagebuch lässt sich inbesondere entnehmen, dass auch die Normalbürger von der Existenz der KZs wussten, auch wenn die Zustände in den KZs nicht im Detail bekannt waren. Das Wissen von der Ermordung der Juden drang trotz Geheimhaltungsversuche seitens des Regimes bis in die Provinz hinein. So schrieb Kellner am 28. Oktober 1941:

„Ein in Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden u. Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt. Aus den Gräben drangen oft noch Schreie!!“

Sein Urteil im Hinblick auf diese NS-Verbrechen war indeutig:

„Es gibt keine Strafe, die hart genug wäre, bei diesen Nazi-Bestien angewendet zu werden. Natürlich müssen bei der Vergeltung auch wieder die Unschuldigen mitleiden. 99 Prozent der deutschen Bevölkerung tragen mittelbar oder unmittelbar die Schuld an den heutigen Zuständen.“

Weiterhin ist es interessant, dass Kellner bereits im Sommer 1941 einen ersten Katalog an Maßnahmen verfasste, die nach Ende des NS-Regimes angewandt werden könnten: „Auflösung der NSDAP, Anklage der NS-Verbrechen, Inhaftierung beziehungsweise Überwachung der Parteifunktionäre“. Sühneleistungen bzw. die Wiedergutmachung seien „sofort in Angriff zu nehmen“, die Verwaltungsführung habe auf unbescholtene Bürger überzugehen, vornehmlich rückkehrende Emigranten.

In diesem Zusammenhang ist auch das Tagebuch des Ingenieurs Karl Dürkefälden von Bedeutung, der über den (Celler) Alltag im „Dritten Reich“ Aufzeichnungen führte.

2016 wird vom Institut für Zeitgeschichte eine sog. Kritische Edition von „Mein Kampf“ herausgegeben. Ziel dieser umstrittenen Edition sei nicht nur eine historiografische Aufklärung, sondern auch eine Entmystifizierung von „Mein Kampf“.

 

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